Auf der Suche nach dem kanarischen Lebensgefühl: Beim Kamel-Rennen in der Wüste

WM-Kolumne „Mein Ka-Tag“ von Wolfgang Stephan

Jeden Abend, wenn der Fußball um Mitternacht vorbei ist, sehe ich im katarischen Fernsehen die Zusammenfassungen der Kamelrennen des Tages. Mit Analysen, Zeitlupen, Studiogästen. Wie beim Fußball. Muss ein Erlebnis sein.

Kamele spielen als Nutztiere keine Rolle mehr im Emirat – sie werden als Renntiere gehegt, gepflegt und gezüchtet. Kamel-Beine können viel Geld für ihre Besitzer einbringen. Einige Kamele sind hunderttausende Dollar wert.
Kamelrennen sind im Emirat die Sportart Nummer eins. Um das Lebensgefühl der Kataris besser zu verstehen, sollten sich Besucher Kamelrennen ansehen, steht im Reiseführer.
Also auf in den Wüstenort Al-Shahaniya. Auf der einzigen Rennstrecke des Emirats ist Hochbetrieb, sagt mein indischer Taxifahrer, der aber am Rande des weitläufigen Rennparcours nicht einmal aussteigen will. Verstehe ich nicht.

Kamele in Katar. Foto: Wolfgang Stephan

Ob heute wirklich Rennen stattfinden? Am Start bin ich mit einem Kamerateam von ServusTV alleine. Aber auch den Österreichern wurde gesagt, dass um 13 Uhr gestartet wird. Also stehen wir in der heißen Sonne und wundern uns, dass keine Tribünen oder wenigstens Zuschauer zu sehen sind. Aber wir müssen richtig sein, denn hinter uns postieren sich vier Kamerateams und fünf Pritschenwagen mit Kameras und Personal. Sonst ist hier echt nichts los. Keine Bude, kein Zuschauer. Unwirklich.

Aber dann: Es ist 12.55 Uhr und hinter der Startlinie bewegt sich was. Von Stallburschen werden Kamele hinter die Startline geführt, die Tiere sind nervös und stampfen von einem Fuß auf den anderen. Also doch ein Rennen. Wir warten. Dann wird es hinter uns laut. Zwei Dutzend Geländewagen kommen angerast. Vollbremsung. Scheiben runter, Arme raus. Alles Fahrzeuge der gehobenen Klasse. Dann der unspektakuläre Start, die Begrenzungswand geht hoch und die Kamele flitzen los, nach 15 Sekunden sind sie weg. Hinter uns heulen die Motoren der Geländewagen auf. Im Wagen sitzen die Besitzer, die versuchen, auf Augenhöhe mit ihrem Kamel zu sein, um besser anfeuern zu können. Digital versteht sich. Die Kinder-Jockeys sind längst verboten, zwischen den Höckern wurden kleine Geräte montiert, aus der nur eine Peitsche ragt. Per Joystick wird die ferngelenkte Peitsche bedient, per Lautsprecher das Tier angefeuert. Digitale Welt in der Wüste. Für den Besitzer des Sieger-Kamels gibt es in der Regel einen vom Staat ausgelobten neuen Geländewagen oder Dollars. Nach 30 Sekunden sind wir wieder alleine.
Nach fünf Starts in einer halben Stunde, mit einem Spannungs-Level ähnlich dem Billard im TV, sage ich den Österreichern Servus. So ganz sicher bin ich mir nicht, wie ich dieses Erlebnis in Bezug auf das katarische Lebensgefühl interpretieren soll.

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Kroatien jubelt, Brasilien heult

Dramatische Schlussphase in der Verlängerung – der große Favorit scheitert im Elfmeterschießen

DOHA. Brasilien weint. Kroatien feiert. Der große Favorit ist raus. Um 20.46 Uhr Ortszeit knallte Brasiliens  Marquinhos den Ball an den Pfosten.  Kroatien gewinnt das Elfmeterschießen mit 4:2 – in einem Spiel, das erst in der letzten Viertelstunde dramatisch wurde. Dann aber richtig.

105 Minuten lang war das ein Viertelfinale ohne spektakuläre Schauwerte. Dann ging Brasilien durch ein großartiges Tor von Neymar in Führung,  alles schien klar, doch die Kroaten krönten ihren tapferen Auftritt mit dem 1:1 durch Bruno Petković, drei Minuten vor Schluss.  Ihr erklärtes Ziel schien lange das Elfmeterschießen zu sein, alles schien verloren, doch dann schlugen sie drei Minuten vor Schliss doch noch zu. Und im Elfmeterschießen.  
Die Brasilianer waren gestern mit einer Europa-Auswahl angetreten: Alisson Becker (Liverpool), Thiago Silva (FC Chelsea), Eder Militao (Real Madrid), Marcinios (Paris), Danilo (Juventos), Casemiro (Manchester United), Lucas Paqueta (West Ham), Vinicius Junior (Real Madrid), Richarlison (Tottenham), Raphinha (Barcelona) und natürlich Neymar aus Paris – alles Top-Spieler bei Top-Vereinen.
Bei den Kroaten standen drei Bundesligaspieler in der Startelf: Josko Gvardiol (Leipzig), Borna Sosa (Stuttgart), Andrej Kramaric (Hoffenheim) und der Ex-Münchner Ivan Pericic, der mittlerweile in Tottenham seine Kohlen verdient. Dazu natürlich Kapitän Luca Modric (Real Madrid) und neben ihm im Mittelfeld Mateo Kovacic vom FC Chelsea. Auch Torhüter Dominic Livakovic von Dynamo Zagreb erwies sich als Tot-Mann in der Kiste. Eine Truppe, die in der ersten Halbzeit die Brasilianer mit einer diszipliniert spielenden Abwehr nicht zur Entfaltung kommen ließen, selber aber zeigten, dass Brasilien Schwächen in der Abwehr hat.
Die Brasilianer hatten Glück, dass Schiedsrichter Michael Oliver aus England in der 25. Minute Danilo nur Gelb zeigte, obwohl der mit hohem gestreckten Bein Juranovic gefällt hatte.
Weil auf beiden Seiten die Torchancen fehlten, blieb das Spiel zunächst weit unter den Erwartungen, auch die Spielanteile waren zur Halbzeit ausgeglichen, entsprechend hielt sich auch die Stimmung der 43.893  im Education City-Stadion in Grenzen.  Beim Blick auf die beiden hochgelobten Stars hatte Luca Modric eindeutig Vorteile, der 37-Jährige lief und lief und lief wie in seinen besten Zeiten, während Neymar eher unauffällig blieb, was sich aber ändern sollte.
Aus der Pause kamen die Brasilianer mit deutlich mehr Schwung, und hatten innerhalb von zehn Minuten tatsächlich drei dicke Chancen durch Richarlison, Vinicius Junior und Neymar, die alle in höchster Not noch verteidigt wurden.  Nach 75 Minuten stand Neymar alleine vor Torhüter Livakovic, der das Duell gewann. Nach 83 Minuten zog Paqueta aus 15 Metern ab, aber erneut war Livakovic zur Stelle. Zu dem Zeitpunkt war deutlich zu spüren, dass die Südamerikaner das Spiel in 90 Minuten entscheiden wollten, während von den Kroaten die Verlängerung angestrebt wurde – von ihren letzten acht K.o.-Spielen bei großen Turnieren (Euro und WM) gingen sieben in die Verlängerung, echte Torchancen hatten sie in der zweiten Halbzeit nicht.

Bis in die 102. Minute der Verlängerung auch nicht, aber dann waren die Kroaten dem 1:0 ganz nahe. Nachdem der eingewechselte Petkovic im Strafraum zwei Brasilianer ausgetanzt hatte, landete das Spielgerät beim freien Brozovic, aber der zielte weit über das Tor. Das hätte es sein können.
Zwei Minuten später der große Auftritt von Neymar da Silva Santos Junior, der das Spiel im Alleingang zu entscheiden schien: Erst ein Doppelpass mit Rodrygo, dann einer mit Paqueta und dann umkurvte er auch noch den Torhüter und knallte aus spitzem Winkel das Spielgerät unter die Latte. Das Halbfinale war nun ganz nahe für die Brasilianer, auf den Rängen wurde gefeiert. Doch in der 117. Minute schlugen die Kroaten zu: Der eingewechselte Orsic setzte sich auf links durch, flankte auf Petkovic und der schoss ganz Kroatien erst einmal ins vorläufige Glück. Showdown Elfmeterschießen.
Kroatien beginnt: 1:0 Vlasic, Rodrygo scheitert an Livakovic, 2:0 Majer, 2:1 Casemiro, 3:1 Modric, 3:2 Pedro, 4:2 Orsic. Dann der Auftritt von Marquinhos. Er muss treffen, er trifft auch, aber nur den Pfosten. Aus für Brasilien. Neymar und seine Kameraden gehen weinend vom Platz. Die Kroaten stehen im Halbfinale. Wieder einmal hat mit ihnen kaum einer gerechnet.

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