Manchmal spielt das Leben seltsame Zufälle. Als das letzte Mal ein großes Fußballturnier in Frankreich stattfand, war ich dabei. 1998, als 13-jähriger Teenie, erlebte ich die Stimmung des WM-Turniers live im Spielort Nantes, als Brasilien und Dänemark aufeinander trafen. Ich erlebte eine stolze Nation, die selbstbewusst, aber gastfreundlich auf „ihre“ Weltmeisterschaft blickte. Ich erlebte, wie mit Lilian Thuram, geboren in Guadeloupe, und Zinedine Zidane, Sohn algerischer Einwanderer, zwei Spieler mit ihren Toren zu Nationalhelden wurden. Kurzum: Ähnlich wie acht Jahre später in Deutschland fühlte man eine Nation, die stolz auf sich und auf das Turnier war – ein Frankreich, bei dem die Welt zu Gast bei Freunden war.

Nun, 18 Jahre später, bin ich wieder da, wieder in der Bretagne, wenn auch diesmal turniertechnisch weitab vom Schuss. Und ich erlebe ein Land, das die Europameisterschaft nur am Rande erlebt – zumindest, wenn man so in der Provinz ist, wie ich es aktuell bin. Keine Plakate wie 1998, kein ominipräsentes Maskottchen á la Footix, kaum ein Hinweis darauf, dass das größte Fußballturnier des Jahres in Frankreich stattfindet – sieht man mal von sehr kleinen Angeboten an Fanutensilien in den großen Supermarktketten ab. Nein, Frankreich ist außerhalb der Spielorte noch nicht im EM-Modus. Selbst in den größeren Städten ist es so verschlafen wie in den kleinen Orten.

Vielleicht liegt es daran, dass die Grande Nation viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist: Politik und Gewerkschaften stehen sich unversöhnlich gegenüber. Wegen einer, laut Ökonomen, dringend nötigen Arbeitsmarktreform ist Frankreich seit Wochen im Ausnahmezustand. Erst die Raffinerien und die öffentliche Versorgung mit Strom und Gas, dann die Metro und die staatliche Eisenbahn SNCF, nun die Müllabfuhr und die Piloten der Air France – praktisch alles wurde oder wird bestreikt, rien ne va plus. Hinzu kommt die seit den Anschlägen von Paris und Brüssel latente Terrorangst und so weiter und so weiter. Selbt im Fußball findet man keine Ablenkung. Rassismusvorwürfe, Erpressungsversuche von Mitspielern – auch hier bestimmt die Politik das Geschehen.

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Eigentlich wenig verwunderlich, dass die Franzosen noch nicht in EM-Stimmung sind – dem Turnier tut dies alles andere als gut. Es bleibt zu hoffen, dass die prächtige Atmosphäre der 80000 beim Eröffnungsspiel im Stade de France ein gutes Vorbild für die nächsten vier Wochen wird. Und dass der späte französische Siegtreffer von Dimitri Payet die Initialzündung für eine Euphorie ist, die einer Europameisterschaft würdig ist. Und dass die Equipe Tricolore ihren Landsleuten schöne Stunden bereitet – wenn auch nur bitte bis zum Finale, wenn sie gegen Jogis Mannen verlieren. In diesem Sinne: Vive la France!

Übrigens: Das Wetter ist im Großen und Ganzen EM-reif und Frankreich hat durchaus romantische Seiten, wie man in Port de Dinan auf dem Foto erkennt. Aber wem erzähle ich das?

Heute geht es um 15 Uhr weiter, wenn Albanien auf die Schweiz trifft. Wales hat es um 18 Uhr mit der Slowakei zu tun und um 21 Uhr trifft England auf Russland.

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